Stimmen

Liebes Bildungssystem,

6 Jahre lang habe ich ein Kind dazu erzogen kreativ zu sein, sich auszudrücken, habe ihm gesagt es sei ok es selbst zu sein, Entscheidungen zu treffen, Verantwortung zu übernehmen, eine eigene Meinung zu haben, achtsam mit seinem Körper umzugehen und seinen Bedürfnissen zu folgen, dann kamst du.

Du belohnst kleine Kinder mit Stempeln dafür stundenlang einfach ruhig zu sein, brav stillzusitzen, bloß nicht aufzufallen, nur zu reden, wenn man gefragt wird, auf Knopfdruck nur die richtigen Antworten auszuspucken ohne über Alternativen nachzudenken, nie über die Linien zu malen und statt individuell unbedingt angepasst zu sein.

Du brichst mir das Herz! Du verwandelst wissbegierige, aufgeschlossene, fröhliche Kinder in zerrisse, willenlose, hilflose, verunsicherte kleine Menschen, die im 45 Minuten Takt immer mehr ihrer Persönlichkeit aufgeben müssen um dem zu entsprechen, was du als Maßstab ansetzt.

Unter dem Deckmantel der Vergleichbarkeit presst du ungeachtet der Talente und Stärken des Kindes mit Hochdruck deine veralteten Lösungsansätze in die kleinen Köpfe und lässt dabei immer weniger Luft für etwas anderes.

Aus Dingen die Spaß machen sollten werden so Zwänge, aus Kreativität wird Pflicht und aus Individualität Konformität.

Kein Raum fürs Wollen, denn das Müssen füllt alles aus.

Wie viele Kinder wirst du noch brechen und wie vielen Therapeuten ihre Stadtvilla damit finanzieren, bevor du merkst, dass das, was du heute erschaffst gestern schon keine Zukunft mehr hatte?

Um neue Probleme zu lösen kann man keine alten Wege gehen! Schönschrift wird keine Pandemien heilen, nicht Hunger und Ungerechtigkeit in der Welt beenden, ein Mensch der zum Stillschweigen und unsichtbar sein erzogen wird, wird keine Zivilcourage zeigen und seine Stimme erheben. Jemand der ab 6 Jahren lernt seine eigenen Bedürfnisse zu missachten wird es schwer haben achtsam mit denen anderer Menschen umzugehen.

Heute helfe ich Menschen dabei ihre Stimme, ihre Stärken und Talente wiederzufinden. All das, was sie für dich aufgeben mussten sind die Dinge, die sie jetzt einzigartig, stark und erfolgreich machen. Sie arbeiten hart um sich selbst wiederzufinden und selbstbewusst sie selbst sein zu können, wieder achtsam mit sich umzugehen und in ihre volle Größe zu wachsen, mit der sie eigentlich oft schon als kleine Menschen geboren wurden.

Du hast es versucht und bist gescheitert, das ist ok, es gehört zum Prozess, zum Leben. Es ist Zeit dein Ego bei Seite zu schieben um Platz für etwas Neues zu schaffen!

Du warst sicher stets bemüht, danke dafür.

Hochachtungsvoll

Eine Mutter von vielen


(von Christin-Isabell Biergans, Facebook, 09.10.2018)

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"Wenn die armen Kinder jedes Mal einen Zehner bekämen, wenn ihr Schicksal bedauert wird – dann wären sie inzwischen reich."

Jedes 5. Kind ist arm

Was für eine Schande, sagen alle. Wir müssen etwas ändern, sagen die Politiker. Unsere Autorin schreibt seit zehn Jahren über Kinderarmut in Deutschland. Sie ist die billige Heuchelei leid.

Von Julia Friedrichs

Kinderarmut: Rund zwei Millionen Kinder in Deutschland sind von Armut bedroht.

Eine der Ersten war Janina. Ich traf sie vor zehn Jahren in Bochum-Wattenscheid. Als ich sie kennenlernte, war sie elf Monate alt. Zwei Etagen unter ihr lebte ihr Opa. Sein Einkommen bekam er vom Amt, genau wie ihr Papa und ihre Mama. Die beiden stritten oft, und Janina stellten sie zum Füttern in einem Autositz aufs Sofa, weil sie keinen Kinderstuhl hatten. An diesem Tag, es war der 24. Oktober, hatten Janinas Eltern noch sieben Euro auf ihrem Konto. Zu wenig, um bis zur November-Überweisung über die Runden zu kommen. Der Kühlschrank war leer, die Windeln für Janina waren aufgebraucht, und immer wenn es an der Tür klingelte, zitterten die Eltern, aus Sorge, das Jugendamt würde kommen, um das Kind mitzunehmen und damit den einzigen Antrieb, diesen ganzen dreckigen Alltag auszuhalten.

Dann war da Sascha, ein Kölner, blass und schlau, zehn Jahre alt. Er hatte gesehen, wie seine Mutter weinte, als die Grundschullehrer ihm eine Empfehlung für die Hauptschule ausstellten. Jetzt saß er da, sprach mit den Freunden über die Zukunft, die für einen Zehnjährigen genau das sein sollte, was sie für seine Klassenkameraden war: ein Ort der Träume und Spinnereien. Einer wollte Hundeverkäufer werden, einer Präsident von Afrika, einer, natürlich, Fußballstar. Und Sascha? Der ahnte, welchen Platz ihm die Erwachsenen längst zugewiesen hatten. "Wenn ich hier den Hauptschulabschluss mache", sagte er, "kann ich ja höchstens Kloputzer werden."

Oder Ercan, auch er zehn Jahre alt. Nur eine gut 30 Meter breite Straße trennte die Wohnblocks in Berlin-Kreuzberg, in denen er als Jüngster in einer achtköpfigen Familie groß wurde, von den wohlhabenden Altbauten, in denen die meisten Kinder einzeln oder im Doppelpack aufwuchsen. Dass die Eltern der anderen Kinder mehr Geld hatten, störte Ercan nicht. Dass viele von ihnen die Welt bereisten und er das Viertel nur selten verließ, auch nicht. Aber dass er jeden Morgen in diese Schule gehen musste, in der die Klos ständig verstopft waren und es wegen Bauarbeiten schon lange keinen Schulhof mehr gab, diese Schule, in der ihm so oft der Kopf wehtat, weil es in der Klasse so laut war, wenn seine Mitschüler fluchten und störten und die Lehrer "Ruhe!" schrien, das nervte Ercan sehr. Denn er hätte gern mehr gelernt – so wie die Jungen und Mädchen aus den Altbauten, die von ihren Eltern weit weg in bessere Schulen gefahren wurden.

Seit mehr als zehn Jahren berichte ich in Fernsehreportagen, Büchern und Zeitungsartikeln immer wieder über arme und abgehängte Kinder in Deutschland. Ich war in Wohnungen, die nach Urin stanken, und in solchen, in denen sich Eltern mühten, auch ohne Geld Würde und Anstand zu wahren. Ich habe mit Grundschulkindern gesprochen, die jobben wollten, um ihren Eltern zu helfen, und solchen, die wütend wurden, weil ihnen immer gepredigt wurde, dass sie verzichten müssten.

Ich habe all die Statistiken gelesen. Und weiß, dass Janinas, Saschas und Ercans Lebenschancen schlechter sind als die ihrer Altersgenossen. Dass die drei aller Wahrscheinlichkeit nach nicht studieren werden. Mehr als in vielen anderen Industrieländern entscheidet bei uns die soziale Herkunft über die Zukunft von Kindern. Bereits mit sechs Jahren können sich arme Kinder im Schnitt schlechter konzentrieren und sind häufiger übergewichtig und krank als ihre nicht armen Altersgenossen. Sie können schlechter sprechen, schlechter zählen. Und in der Schule gelingt es viel zu selten, diesen Startnachteil wettzumachen. Das gilt übrigens selbst dann, wenn die Eltern zwar wenig Geld, dafür aber einen hohen Bildungsstand haben. Ich kenne die Analysen, wonach ein Kind, das arm ist, später gefährdeter ist, Drogen zu nehmen, ein Opfer von Gewalt oder selbst kriminell zu werden. Der Malus der Armut bleibt oft ein Leben lang, bis zum Ende: Die statistische Lebenserwartung eines Jungen, der in eine arme Familie geboren wird, ist elf Jahre niedriger als die eines Jungen aus wohlhabendem Hause.

Auch weiß ich inzwischen, wie Leser und Zuhörer reagieren, wenn ich von Kindern wie ihnen schreibe oder auf Veranstaltungen von ihnen erzähle. Manche bedauern Janina, Sascha und Ercan ein paar Sätze lang, dann geben sie deren Eltern die Schuld: Diese allein seien verantwortlich für das Schicksal ihrer Kinder, nicht die Gesellschaft. Die meisten Leser und Zuhörer aber sind anders. Sie fühlen mit und sind bestürzt über, wie es immer heißt, "so viele arme Kinder in unserem reichen Land".

Es ist eine Reaktion, die man auch in den nächsten Wochen wieder hören wird, wenn die Bundesregierung ihren Armutsbericht veröffentlicht. Eine Reaktion, die seit zehn Jahren auf jede neue Studie, jede neue Statistik zur Kinderarmut in Deutschland folgt.

Es wäre für den Staat einfach, für Familienrabatte zu sorgen

Es sind ja auch traurige Zahlen: Rund zwei Millionen Kinder in Deutschland sind von Armut bedroht, das ist jedes fünfte. Besonders häufig arm sind Kinder von Arbeitslosen, Alleinerziehenden und solche mit mindestens zwei Geschwistern. Armut ist in Deutschland natürlich relativ und, um den Einwand der Leserbriefschreiber schon mal vorwegzunehmen, natürlich nicht mit der in Kalkutta zu vergleichen.

Arm sein heißt laut Statistik erst mal nur, dass die Familie mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens auskommen muss. Arm sein bedeutet aber auch: beengte Wohnungen, raue Stadtviertel, kein Geld für individuelle Förderung, für Wünsche, nie Urlaub.

Ercan konnte in die Dreiraumwohnung der Großfamilie keine Freunde einladen. In Saschas Viertel klauten die Älteren den Kleineren Geld und Handys. Und Janinas Familie ging die halbe Stunde zum Jobcenter stets zu Fuß. Das Straßenbahnticket war viel zu teuer.

Wie kann das sein?, beklagen dann regelmäßig die Journalisten. Wir müssen etwas ändern, bekräftigen die Politiker, Jahr um Jahr.

"Kinderarmut ist eines der beschämendsten Probleme in unserem Land", sagte die damalige Familienministerin Ursula von der Leyen 2007.

"Für mich ist die Bekämpfung von Kinderarmut ein sehr wichtiger Punkt", sagte die aktuelle Familienministerin Manuela Schwesig im Jahr 2014.

"Kinderarmut ist ein bedrückendes Problem", sagte Arbeitsministerin Andrea Nahles im Mai 2016.

Welch große Einigkeit! Wenn aber alle ihre Bestürzung geäußert haben, wird es still, bis zur nächsten Statistik, der nächsten Welle der Empörung.

Ich fühle mich dann wie in einer Zeitschleife. Denn die Zahl der armen Kinder ist bis Mitte der 2000er Jahre angestiegen und sinkt nicht. Seit zehn Jahren nehmen unsere Regierungen in Kauf, dass zwei Millionen Janinas und Saschas und Ercans in Wattenscheid, Köln oder Berlin aufwachsen und von Anfang an schlechte Karten haben, Erfolge zu erleben, Talente zu entfalten, die Welt zu erobern – oder wem das zu sozialromantisch klingt: Steuerzahler zu werden und in die Rentenkassen einzuzahlen, Unternehmen zu gründen, mit ihrem Geist dieses Land zu bereichern und damit unsere Zukunft zu sichern.

Klar: Hier und da werden, wie es dann heißt, "Maßnahmen" ergriffen, es wird, wie gerade geschehen, der Kinderzuschlag für Eltern mit niedrigem Einkommen um zehn Euro erhöht oder das Kindergeld um zwei Euro monatlich, es werden Teilhabepakete geschnürt. Und in einzelnen Stadtvierteln, in vielen kleinen Projekten gelingt auch Großes. Aber legt man die Lupe beiseite und betrachtet das ganze Bild, hat sich wenig geändert. Wann gingen Bürger einmal auf die Straße, um sich darüber zu empören, dass so viele Kinder abgehängt sind? Wo ist der gut vernetzte Verein, der Druck macht, bis es gut ausgestattete Bildungseinrichtungen für alle von Anfang an gibt? Wo ist die konzertierte Aktion der Regierung gegen Chancenarmut? Dabei ist es offensichtlich, was dringend zu tun wäre: herausragende Bildungseinrichtungen für ganz Kleine zum Beispiel, vor allem in den Vierteln, in denen die Armut groß ist. Aber auch: endlich verlässliche Ganztagsgrundschulen, in denen die Kinder nicht am Nachmittag nur betreut werden, sondern in denen alle gemeinsam auch nach zwölf Uhr noch lernen, Sport treiben, musizieren und ein warmes Mittagessen bekommen. Wenn die Bundesländer es weiter nicht schaffen, ihren föderalen Flickenteppich zu einem einheitlichen Ganzen zusammenzuweben, müsste der Bund die Verantwortung für diese Schulen tragen.

Kommen wir zum Geld: Wie können wir hinnehmen, dass dem Staat ein armes Kind – trotz Mahnungen der Verfassungsrichter – weniger wert ist als ein armer Erwachsener? Dass der Hartz-IV-Regelsatz für einen Zehnjährigen rund 100 Euro im Monat niedriger ist als der seiner Elternteile?

Jeder, der Kinder hat, weiß, dass diese häufiger neue Kleidung brauchen als Erwachsene, dass sie Bücher, Stifte und vor allem: gesundes Essen brauchen. Jeder, der Kinder hat, weiß, dass es ihnen viel schwerer fällt zu verzichten als den Eltern, die ihre Lage begreifen können. Und Verzicht bedeutet nicht, die zum Klischee aufgeblasenen Markenschuhe nicht kaufen zu können, sondern sich all das nicht zu leisten, was die Freunde tun: Schwimmunterricht, Zoobesuche und, wenn es regnet, einen Kinobesuch mit Popcorn.

Es wäre für den Staat einfach, dafür zu sorgen, dass große Familien günstiger wohnen können. Dass kinderreiche Familien – wie etwa in Frankreich – Rabatte bekommen, wenn sie verreisen wollen oder Kleidung und Schulsachen kaufen.

Ein armes Kind ist dem Staat weniger wert als ein reiches

Deutschland investiert viel Geld, um Ehen und Familien zu unterstützen. 200 Milliarden Euro verteilen Behörden pro Jahr an Paare mit und ohne Kinder. Allerdings tun sie das nicht mit der Gießkanne, wie oft kritisiert wird, sondern mit einem außer Kontrolle geratenen Rasensprenger: Er wässert die Wiese vor allem dort, wo sie ohnehin schon sattgrün ist.

Es gibt über 150 Familienleistungen – Elterngeld, Kindergeld, Kita-Zuschuss –, und das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung hat gerade erst berechnet, wie sich dieses Geld verteilt. Das Ergebnis war überraschend: 13 Prozent der Fördersumme landen bei den reichsten zehn Prozent der Familien, nur sieben Prozent bei den ärmsten zehn Prozent. Anders ausgedrückt: Ein armes Kind ist dem Staat monatlich im Schnitt 107 Euro wert, ein reiches aber 199 Euro. Ein absurdes System.

Würde der Staat stattdessen jedem Kind, egal wie alt, egal aus welcher Familie, das zahlen, was es zum Leben braucht, wäre das nicht nur ein Zeichen dafür, dass alle Kinder gleich viel wert sind, sondern auch eine wirksame Waffe gegen die Folgen der Armut. Kindergrundsicherung nennen Wissenschaftler das und schlagen vor: 500 Euro sollte jedes Kind pro Monat erhalten.

Das klingt nach Träumerei? Auf gerade mal 30 Milliarden Euro schätzt ein Team der Böll-Stiftung die Mehrkosten pro Jahr. Allein die Abschaffung des Ehegattensplittings würde etwa 20 Milliarden einbringen.

Möglich wäre es also.

Stattdessen erleben wir seit Jahren diese unwürdige Aufführung aus Armutszahlen, politischem Bedauern und gleichzeitigem Nichtstun. Warum?

Inzwischen habe ich nur eine Erklärung: Am Ende sind Kinder wie Janina, Ercan und Sascha den allermeisten dann doch egal. Klar, es fällt schwer, in die runden Augen zu blicken und zuzuhören, wenn die Kleinen von ihrer Armut erzählen. Selbstverständlich müssen viele schlucken, wenn ihnen klar wird, wie unwahrscheinlich es ist, dass es in diesen Leben, die mit wenig Chancen beginnen, eine Wende zum Guten geben wird.

Aber spätestens wenn aus den süßen Zehnjährigen laute, manchmal schwierige Teenager geworden sind, wandelt sich das Mitleid vieler in Ablehnung. Sollen sie sich doch mehr anstrengen, höre ich oft. Sollen sie doch sehen, wie sie klarkommen! Binnen weniger Jahre werden aus den Opfern ihrer Lebensumstände Täter.

Das ist nur eine der Strategien, das Gewissen zu besänftigen. Andere ersticken ihr Mitgefühl in abstrakten Debatten, über Armutseinwanderung oder den Armutsadel. Die Milderen haben gerade vor Weihnachten wieder gespendet, immerhin.

Für echte Aufstiegschancen der armen Jungen und Mädchen aber kämpft niemand. Vielleicht, so denke ich manchmal, belügen sich vor allem die Menschen der Mittelschicht selbst. Haben sie wirklich ein Interesse daran, dass die armen Kinder mitmischen beim ohnehin angespannten Wettkampf um Karrierechancen? Oder sind viele Eltern insgeheim froh darüber, dass ein Fünftel der Konkurrenz bereits in der Schule abgehängt ist?

Ein Student, der sich ehrenamtlich um Ercans Bruder kümmerte, hat es mal so formuliert: "Es heißt immer: Kinder sind unsere Zukunft. Aber die Kinder in unserer Siedlung sind damit nicht gemeint."

Da hat er wohl recht. Offenkundig können die Deutschen ganz gut damit leben, dass zwei Millionen Kinder mit wenig Geld und noch weniger Chancen aufwachsen. Was zu tun wäre, liegt auf der Hand: Investitionen in Schulen und Kindergärten, vor allem dort, wo arme Kinder leben, Geld für günstige Wohnungen, eine Kindergrundsicherung, die den Namen verdient.

Bleiben wir weiter untätig, sollten wir zumindest auf die öffentliche Selbstkasteiung verzichten, die quartalsweise mit großer Rhetorik unternommen wird. Was für eine eingeübte Empörung! Wenn die armen Kinder jedes Mal, wenn ihr Schicksal bedauert wird, einen Zehner bekämen – dann zumindest hätten sie noch etwas von dieser billigen Heuchelei.





Gewalt und Radikalisierung  vermeiden – eine Anleitung

Wie Aggression, Gewalt und potenzieller Radikalisierung in Kindergärten und Schulen vorgebeugt werden kann, erklärt der renommierte dänische Familientherapeut Jesper Juul in diesem Fachartikel für Experten. Ein exklusiver Beitrag, der auch Eltern wichtige Einblicke in eine hochaktuelle Thematik gibt.
Text: Jesper Juul

Diese Anleitung beschreibt, wie und warum wir einen höheren Grad an Gewalt und Aggression in Kindergärten und Schulen erwarten können, die aus der ablehnenden europäischen Haltung gegenüber den Flüchtlingen resultiert, und wie wir mit dieser Situation  als Lehrer und Eltern umgehen können. Der Text illustriert die unterschiedlichen und doch  identischen Quellen von Aggression bei europäischen und geflüchteten Kindern und  Jugendlichen, und die Notwendigkeit neuer pädagogischer Ansätze. Mit dem Begriff  «Prävention», den ich hier benutze meine ich Primärprävention. Da es über den  Zusammenhang zwischen politischen und kulturellen Haltungen gegenüber Migranten und  Flüchtlingen und dem Auftreten von Aggression und Gewalt bei Kindern und Jugendlichen  keinerlei Forschungsergebnisse gibt, sind die in Folge beschriebenen Ansprüche und  Vorhersagen nicht evidenzbasiert, sondern erfahrungsbasiert.
Die enorme Menge an Flüchtlingen und Migranten, die nach Europa kommen und die vielfältigen Methoden, mit denen unsere Regierungen beschlossen haben, sie nicht willkommen zu heißen, hat bereits von unseren eigenen Bürgern initiierte Gewaltausbrüche und Vandalismus zur Folge gehabt. Es gibt wenig Hoffnung, dass die Lage nicht eskalieren wird und es nicht noch gewaltsamere Konfrontationen, sowohl zwischen unterschiedlichen Bürgergruppen, als auch zwischen «uns und denen», geben wird»

Aus der jüngsten Geschichte haben wir gelernt, dass wir uns viel besser um die Kinder und Jugendlichen primär aus muslimischen Familien kümmern müssen. Wir haben sie vernachlässigt, indem wir ihr existenzielles Dilemma und ihr Bedürfnis, sich unserer Gesellschaft zugehörig zu fühlen, ignoriert haben, oft einfach bis zur Entfremdung und Verzweiflung. Die daraus resultierende Tendenz, sich kriminellen Gangs oder radikalen Bewegungen anzuschließen, die ihnen Sinn, Struktur und Ausrichtung in ihrem Leben geben, hat uns erst vor kurzem aufhorchen lassen.

Diese Tatsache hat nun zweierlei Dinge zur Folge:

Erstens hat es rechtsextremen Bewegungen Gelegenheit geboten, sich in der politischen Szene sowie auf den Straßen breit zu machen. Diese Bewegungen, ob Gruppierungen oder Gangs, sind in ihrer Philosophie und ihrem Verhalten alle aggressiv und gewalttätig, obwohl sie behaupten, sie würden aus Liebe zu ihrer Heimat handeln (aus historischer Sicht haben rechtsextreme Bewegungen die Tendenz, nationalistische Abstraktionen leidenschaftlicher zu lieben als ihre Nächsten).

Zweitens hat es zehntausende besonnener, mündiger und verantwortungsvoller Bürger bewegt, mit vielen unterschiedlichen empathischen, menschlichen und intelligenten Initiativen unser ethisches und moralisches Kapital sowie unsere fundamentalen christlichen Tugenden wie Güte, Empathie, Großzügigkeit und Freundschaft zu schützen.  Kurz gesagt hat diese negative Atmosphäre zur Folge, dass Tausende europäische Kinder, die von den aggressiven und rassistischen Werten ihrer Eltern und der Netzwerke ihrer Erwachsenen geprägt sind, in unsere pädagogischen Einrichtungen eintreten werden. Gleichzeitig werden viele Kinder aus Flüchtlingsfamilien die gleichen Einrichtungen besuchen und diese werden von den Gräueln, die sie in ihrem Herkunftsland erlebt haben, psychologisch, seelisch und existenziell gezeichnet sein, aber auch von einer neuen Angst, und zwar ausgeschlossen und isoliert zu werden, eine Angst, die das Lebensgefühl ihrer Eltern und auch ihr eigenes bestimmen.

Die Etymologie der Aggression

Diese Situation wird unvermeidlich einen Anstieg aggressiven und gewalttätigen Verhaltens zwischen Kindern und Jugendlichen, und sogar von Kindern und Jugendlichen ihren Lehrern gegenüber haben. Der psychosoziale Ursprung dieser Aggression ist die Angst, seinen Besitz, seine Werte und sein Revier zu verlieren; die Angst vor Ablehnung, Ausgrenzung und Isolierung; unerkannter Schmerz aus traumatischen Ursachen, der nachweislich zu PTBS führt, sogar bei sehr jungen Kindern. Die kurze Fassung hiervon, die ich im Folgenden weiter ausführen werde, ist, dass beide Gruppen Kinder entweder einen imaginären Werteverlust erleben werden, der mit ihren übernommenen Werten und Besitz in Verbindung steht (heimische Kinder) oder einen sehr realen Verlust des Gefühls, für die Gesellschaft wertvoll zu sein (geflüchtete Kinder).

Wie ich es ausführlich in meinem Buch über Aggression erklärt habe (Jesper Juul - «Aggression, warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist») bildet dieser imaginäre oder reelle Verlust ihres Wertes als menschliche Wesen an sich die die Wurzel der Aggression. Wenn mit dieser gesunden emotionalen Reaktion nicht angemessen von Seiten der Eltern, Lehrer, Therapeuten, Ärzte und Ordnungskräfte umgegangen wird und wenn sie durch Politiker und den Gesetzgeber nicht gewürdigt wird, wird sie sich immer in Gewalt verwandeln. Wenn Menschen nicht gehört werden, haben sie die Tendenz die «Lautstärke» aufzudrehen. Diese Gewalt kann entweder schädigende Gewalt sein, die andere Menschen verletzt oder ihren Besitz beschädigt, oder sie kann von der introvertierten Sorte sein, die in eine Reihe von selbstzerstörerischen Verhalten resultiert.

Destruktive Aggression wurzelt in der Erfahrung des Einzelnen, nicht gesehen und nicht gehört zu werden. Dadurch kommen der Sinn von Zugehörigkeit und das Gefühl, für andere wertvoll zu sein, abhanden. Das daraus resultierende aggressive oder gewaltsame Verhalten kann entweder kurzfristig und mit einer spezifischen Person verbunden sein, oder es kann langfristig sein und sich auf eine andere Person, Gruppe oder soziale Einheit beziehen. Diese Ursache ist kulturübergreifend und nicht auf ein bestimmtes Geschlecht oder Alter bezogen.

Europäische Kinder

Die Kinder verängstigter und aggressiver europäischer Eltern werden eine Minderheit in unseren Einrichtungen sein, in denen Lehrer versuchen werden, ihnen bessere Wege aufzuzeigen. Unsere bisherige Erfahrung zeigt, dass diese Versuche meist zum Scheitern verurteilt sind und dies aus zweierlei Gründen: entweder werden sie durch die Eltern vereitelt, die nicht in der Lage sind, die Verbindung zwischen ihrer eigenen aggressiven Philosophie und dem verbalen Gebaren und gewalttätigen Verhalten ihrer Kinder gegenüber anderen (weißen) Kindern zu erkennen. Oder sie werden dazu neigen, ihr Verhalten gegenüber (dunkelhäutigen) Kindern zu verteidigen. In beiden Fällen werden die Kinder verwirrt sein und die Tendenz haben, sich loyal gegenüber ihren Eltern und deren Werten zu verhalten. Dies wird ihnen ein Gefühl und eine Erfahrung der Ausgrenzung und der Abwertung durch die Institutionen der Gemeinschaft geben, welche ihr aggressives Verhalten steigern und gleichzeitig auch ihre Sichtweisen bestätigen wird. Sie werden sich wie selbstgerechte Außenseiter fühlen.
Flüchtlingskinder

Flüchtlingskinder werden sich hauptsächlich in zwei Gruppen aufteilen, auch wenn sie in ähnlichen Lebensverhältnissen leben. Gewöhnlich werden sie Eltern haben, die sie stark unterstützen und denen viel daran liegt, dass ihre Kinder sich integrieren. Auch haben Eltern die Tendenz, ihr eigenes Wohlbefinden und sozialen Erfolg zugunsten des zukünftigen sozialen Erfolgs ihrer Kinder zu opfern. Beide Phänomene – die starke Unterstützung und das Opfer – legen eine schwere Bürde auf die Schultern ihrer Kinder. Diese werden sich verpflichtet fühlen, eine Gegenleistung zu bringen und sich für das Wohlbefinden der ganzen Familie verantwortlich fühlen, was auch einen starken Wunsch beinhaltet, erfolgreich zu sein und ihre Eltern stolz und glücklich zu machen. Falls und wenn sie unter dieser Last zusammenbrechen, dann erwartet sie ein emotionales und existenzielles Desaster ohne jegliches Gefühl für Werte, weder für ihre Lieben noch für die Gesellschaft. Hierdurch werden die Weichen für eine mögliche Radikalisierung gestellt.

Egal wie freundlich, offen und einladend die Lehrer sind, so haben diese Kinder bereits jetzt das Gefühl, aufgrund der herrschenden feindseligen politischen Haltung, die «in der Luft» liegt und die durch ihre Eltern und ihr Netzwerk intensiv wahrgenommen und verstanden wird, der neuen Gesellschaft nicht anzugehören. Das Zusammentreffen mit freundlichen und um Inklusion bemühten Lehrern, neuen Freunden und deren Eltern und Geschwister wird für sie extrem wertvoll sein und den Kindergarten und die Schule zu einem sicheren Hafen für sie machen. Es wird ihnen jedoch nicht helfen, mit ihrem emotionalen und existenziellen Schmerz fertig zu werden.

Manche werden Eltern haben, die stark, kompetent und offen genug sind, ihnen zu helfen, jedoch braucht der Großteil von ihnen emotionale Unterstützung (wie auch ihre Eltern Unterstützung brauchen). Eine der Auswirkungen unserer Feindseligkeit gegenüber Geflüchteten ist, dass wir uns weigern, ihnen die Hilfe zu geben, die sie benötigen. In manchen Ländern wird ihnen sogar die grundlegendste medizinische Versorgung verwehrt, bis sie Asyl bekommen, ein, zwei oder drei Jahre nach ihrer Ankunft. Angemessene psychologische, psychiatrische und psychotherapeutische Betreuung steht ihnen nicht zur Verfügung. Die entscheidendste und gefährlichste Auswirkung dieser Ausgrenzung ist, dass ihr Trauma weniger zugänglich wird und dadurch belastender für ihre psychologische Entwicklung und ihre Fähigkeit, sich zu integrieren – auch wenn der Wunsch, sich anzupassen noch stark ist.

Wie können wir damit umgehen?

Es gibt viele Dinge, die Sie tun können. Manche hängen vom Alter der Kinder ab, andere sind altersunabhängig. Das Motto sollte sein:

Wenn das Gewöhnliche außergewöhnlich wird.

Das ist die Essenz von dem, was wir vor vielen Jahren gelernt haben, als wir während und nach dem Balkankrieg in Flüchtlingslagern in Kroatien, Bosnien, Österreich und Slowenien mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet haben, und auch als wir damals in einigen dänischen Kindergärten mit Flüchtlingskindern arbeiteten. Dieses Motto bezieht sich auf die Tatsache, dass verwundbare Kinder wie alle anderen Kinder den Wunsch haben, gesehen und anerkannt zu werden so wie sie sind, ohne Referenz zu einer spezifischen, gegenwärtig dominanten kulturellen Idee, die von Eltern und Erziehern festgelegt ist. Genauso wie sie das Bedürfnis haben zu spielen, Freundschaften zu schließen, zu lernen und Kompetenzen zu entwickeln, körperlich berührt und umarmt zu werden und die Freiheit zu bekommen, Kontakt zu anderen zu suchen und sich aus dem Kontakt wieder zurückziehen zu dürfen, je nach eigenem Rhythmus.  Verwundbare Kinder – ob geflüchtet oder heimisch – brauchen all dies und sie brauchen mehr davon als ihre zufriedeneren und ausgeglicheneren Freunde. Darüber hinaus brauchen einige von ihnen, aus beiden Gruppen, eine höher spezialisierte und individualisierte Aufmerksamkeit in Zusammenarbeit mit Spezialisten und ihren Eltern und Geschwistern. Diese Tatsache sollte aber niemals die gewöhnlichen Eigenschaften ihrer Einrichtungen und ihrer Familien ersetzen, und lediglich im Fall von institutionalisierter oder elterlicher Vernachlässigung sollten diese Kinder aus diesen entfernt werden. Für alle verwundbaren Kinder ist es unerlässlich, dass die ganze Familie Unterstützung und Therapie bekommt, und dies aus den zwei folgenden Gründen:

Es wird die Erfahrung des Kindes, falsch, schwierig, ungezogen, lästig und unerwünscht zu sein in den Augen seiner wichtigsten Erwachsenen, schmälern.

Es wird die Eltern mit Know-how und Kompetenzen versorgen, die sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht besitzen, und ihnen das Gefühl geben, dass sie ausreichend gute und wertvolle Eltern sind. Andernfalls werden sie sich selbst als schlechte Eltern erleben, was in vielen Fällen zu häuslicher Gewalt führen wird. Es wird Vertrauen in ein System und in Berufe aufbauen, die für sie fremd und/oder beängstigend sind und die sie womöglich als Feinde ihrer Familie sehen.

Auch wenn beschlossen wird, ein Kind zu einem Physiotherapeuten, einem Logopäden, einem Ergotherapeuten oder irgendeiner anderen Art von Therapie zu überweisen, die eigentlich unter «Einzeltherapie» eingeordnet wird, so ist es sehr wichtig, die Eltern und am besten beide Eltern, miteinzubeziehen. Nicht nur aus den oben beschriebenen Gründen, aber auch um für alle Beteiligten klar zu machen, dass Eltern immer ein Teil der Lösung sein müssen – und dies wird nur gewährleistet, wenn die während der Therapie neu angeeigneten Fähigkeiten und Einsichten auch experimentell und nicht nur abstrakt angepasst werden können. Die Notwendigkeit dieser Vorgehensweise ist gleich, ob es sich um heimische oder geflüchtete Kinder handelt. In beiden Gruppen werden sie mit Eltern zu tun haben, die sich verhalten, als seien sie «nicht motiviert».

Falls dies geschieht, halten Sie sich vor Augen, dass alle Eltern sich unzulänglich fühlen, wenn ihr Kind die Aufmerksamkeit von Fachleuten auf sich zieht. Daher ist es Ihr Job, einen dynamischen Dialog zu initiieren und zu führen, der ihr Vertrauen in Sie schürt und der ihnen ein ausreichendes Gefühl von Sicherheit vermittelt, um mit Ihnen zusammenarbeiten zu können. Wenn Sie dies nicht tun, werden sie die Neigung haben, sich aus dem Kontakt zurückzuziehen und sich auf ihre eigenen unzureichenden Bewältigungsmechanismen zu verlassen. Sie werden außerdem auch sehr patriarchale Familien antreffen, bei denen Sie die Art, wie in der Familie Arbeit und Verantwortlichkeiten strukturiert werden, respektieren müssen. Versuche, ihre selbst gewählte Art des Zusammenlebens als Familie zu kritisieren und zu verändern wird diese Familien nicht nur entmutigen, sondern auch Spannungen auslösen, die zur zusätzlichen Belastung für die Kinder werden.

Was Ihre Einrichtung und Ihre Mitarbeiter brauchen

Sie müssen ihre geschichtlichen und gegenwärtigen Werte und Haltungen gegenüber aggressivem Verhalten überprüfen und die Elemente löschen, die kontraproduktiv sind.
Diese sind:

Die moralische Verurteilung dieses Verhaltens

Es gibt an der Meinung «wir wollen keine Gewalt» nichts auszusetzen, aber wenn diese Ihr vorrangiges und einziges Schutzwerk gegen Aggression ist, dann werden wahrscheinlich drei Dinge passieren:

Zum Ersten wird es das unerwünschte Verhalten nicht wirklich unterbinden – weder zwischen den Kindern, noch von Seiten der Mitarbeiter. Daher wird es zu einer dieser augenscheinlichen Werte, die hauptsächlich als dekoratives Alibi dastehen.

Zweitens führt es oft zu einer Reihe von sogenannten «Konsequenzen», welche lediglich eine moderne Bezeichnung für Bestrafung sind, und von ihrer eigenen Natur und Absicht immer aggressiv und daher kontraproduktiv sind, wenn es darum geht, eine gewaltfreie Kultur in einer Einrichtung zu gewährleisten.

Und drittens führt es zur allgemeinen Annahme bei den Kindern, dass alle aggressive Gedanken oder Gefühle verboten sind, was zur selbst- Unterdrückung führt. Wenn dies geschieht (wie zum Beispiel in Schweden im Laufe der zwei letzten Jahrzehnte), führen die unterdrückten Gefühle, die mangelnde Einsicht und die mangelhaften Kompetenzen im einzelnen Kind, mit ihnen umzugehen, zu verzögerten Wut- und Gewaltexplosionen bei Teenagern und jungen Erwachsenen – die sich momentan gegen Flüchtlingsunterkünfte und einzelne Flüchtlinge auf den Straßen richten. Das vorhersehbare Ergebnis von verurteilender Moral ist, dass sie genau die Art Verhalten schafft, die sie beabsichtigt zu unterbinden.

Eine professionelle Kultur, die Mitarbeitern erlaubt, Kinder zu erniedrigen und mit ihnen zu schimpfen, wann immer sie Dinge sagen oder tun, die die Erwachsenen unzumutbar finden.
Schimpfen ist eine traditionelle Form von erzieherischer Aggression und psychischer Gewalt, die, so haben eine ganze Reihe Studien gezeigt, Kinder als genauso harsch und schmerzlich empfinden wie physische Gewalt. Hinzu kommt, dass es eine kulturelle Zwickmühle ist, die zwei gegensätzliche Regelwerke für Kinder und Erwachsene aufstellt, was die Anzahl und die Intensität der Konflikte zwischen Kindern und daher die «Notwendigkeit» zu schimpfen erhöhen wird.

«Aggression des Kindes ist eine klare Botschaft, die besagt: 'Ich habe Schmerzen und fühle mich verloren'.»

Ein Kind, das regelmäßig mit physischer und/oder verbaler Aggression reagiert, wenn es frustriert oder im Konflikt mit anderen steht, ist keinesfalls ein unerzogenes Kind, das es «besser wissen sollte».  Die Aggression des Kindes ist eine klare Botschaft an die Erwachsenen, die besagt:

«Ich habe Schmerzen und ich fühle mich verloren. Ich weiß, dass das was ich tue falsch ist, also könntest du mir bitte helfen herauszufinden, was gerade in meinem Leben schief läuft. Ich liebe meine Eltern, ich mag meine Lehrer und ich möchte mit den anderen Kindern spielen, aber irgendwie schaffe ich es nicht.»

Diese Botschaft ähnelt sehr der aggressiver, schreiender und ohrfeigender Eltern, schimpfender und bestrafender Lehrer, und Ehemännern, die ihre Ehefrauen schlagen. Diese Tatsache rechtfertigt moralisch aggressives oder gewaltsames Verhalten keineswegs, noch macht sie sie gesellschaftsfähig, jedoch fordert sie die zuschauenden Fachleuten moralisch und ethisch dazu auf, diese Botschaft unbedingt zu verstehen und ihr Augenmerk auf ihre existenzielle Substanz zu richten, und nicht auf ihre Form. Es ist demzufolge völlig im Rahmen einer verantwortungsvollen professionellen Handlungsweise, die Hand des Kindes zu nehmen, sich mit ihm von der Szene des Vorfalls zu entfernen und zu sagen: «Ich kann sehen, dass du in Schwierigkeiten bist und ich würde dir gerne helfen wenn ich kann. Lass uns einen Spaziergang machen, rausgehen, in mein Büro gehen und herausfinden, was dir innen wehtut.» Nicht nur wird dadurch die Situation entschärft und dem Kind ein Gefühl der Sicherheit und des Angenommen-seins vermittelt, sondern es sendet auch den anderen Kindern eine starke Botschaft: «Wann immer du verzweifelt bist, werden wir dir helfen und wir werden gewalttätiges Verhalten nicht dulden.»

Auf diese Art und Weise wird der Lehrer zum Rollenvorbild anstelle eines aufgebrachten Prinzipienpredigers – ein Rollenvorbild, das dem Kind bereits vertraut ist – und kann dadurch verhindern, dass das Kind sich noch unzulänglicher, noch dümmer und noch isolierter fühlt, was seine Verzweiflung und seine Aggression nur noch steigern würde. Die übergreifende pädagogische Botschaft lautet demnach: Ich mag es nicht, wenn Menschen aggressiv sind und einander verletzen, aber wenn du keinen anderen Weg findest, «Aua!» zu sagen, dann helfe ich dir einen zu finden.

Aktivitäten und Routinen

Es besteht kein Zweifel daran, dass tägliche, wöchentliche und jahreszeitliche Rituale und Traditionen eine sehr wichtige Rolle dabei spielen, allen Kindern eine sichere Atmosphäre zu gewährleisten, und besonders auch verwundbaren Kindern, ob sie traumatisiert sind oder nur sozial gegenüber anderen Kindern am Rande stehen. Zusätzlich zu diesen Ritualen empfehle ich folgendes – ohne spezifische Rangordnung:

Philosophische Fenster

Es gibt eine Reihe guter Bücher darüber, wie man mit Kindern philosophieren kann, die
Fachleute mit Inhalten und Methoden versorgen. Der Wert dieser wöchentlichen Fenster (meine Empfehlung) ist, dass sie sowohl die Kinder als auch ihre Lehrer ermutigen, über wichtige Fragen und Themen des Lebens nachzudenken und zu reden, wie z.B.: Freundschaft; Schlüsselgefühle wie Liebe, Wut, Hass, Frustration; Familie; Krieg usw. in gleichberechtigter Gewichtung. Für Kinder ist es extrem wertvoll, nachdenken und sich ausdrücken zu dürfen (Kinder, die nicht gerne reden, können malen), aber auch für Lehrer ist es wertvoll, denn sie bekommen die seltene Gelegenheit über jenes, was sich in jedem einzelnen Kind innerlich abspielt, mehr zu erfahren und Entwicklungen eher zu begünstigen, als bloßen Stoff zu unterrichten.

Empathie-Training

Unser Buch über Empathie (Jesper Juul und weitere Autoren – «Miteinander – wie Empathie Kinder stark macht») bietet einen Katalog von 12 Übungen an, die frei von spezifischen Religionen und Ideologien sind. Diese können mit Kindergruppen gemacht werden und werden auf verschiedenen Ebenen fruchtbar sein:

Jedes einzelne Kind wird neue Wege erleben, seinen eigenen Körper und sein im-Hier-und-Jetzt-sein wahrzunehmen und so seine psychosoziale Entwicklung zu fördern.

Das Wachstum des Einzelnen wird einen positiven Einfluss auf das Zusammenspiel zwischen den Kindern haben und somit zu einer gesunden Kultur in der ganzen Einrichtung beitragen.

Die Lehrer werden ermutigt, die Übungen zusammen mit der Gruppe zu machen und werden dadurch ihre eigenen Fähigkeiten und ihren eigenen Wunsch, den Kindern mit Empathie und mit Mitgefühl zu begegnen, verbessern. Außerdem schaffen sie dadurch einen gemeinsamen Pool geteilter Erfahrung und Sprache, die die zwischenmenschlichen Beziehungen und Kultur aufwerten wird.

Achtsamkeitstraining

Achtsamkeit wurde vornehmlich aus therapeutischer Sicht entwickelt um mit akutem Stress- Syndrom umzugehen und hat sich dann zu einer erweiterten und wissenschaftlich gut dokumentierten Methode ausgeweitet, um das individuelle Bewusstsein des eigenen Geistes, des eigenen Körpers und der Umgebung, zu verbessern. Auf diese Weise ist es ein sehr geradliniges und wertvolles Bündel von Fertigkeiten und Einsichten, die das Wohlbefinden von Kindern in Einrichtungen fördert – Einrichtungen, in denen es Unmengen von Stressfaktoren gibt und eine Nichtverfügbarkeit von Alleinsein-Können, Stille und nach innen gerichteter Achtsamkeit.

Manche Fachleute befürchten, dass dieses Training gefährlich für verwundbare und Not leidende Kinder sein wird, doch diese Angst rührt aus einer veralteten Art zu denken, die es vorzog, menschliche Emotionen zu deckeln, und der es an Einsichten und Kompetenzen mangelte, den Einzelnen und seiner Umgebung gesunde Wege aufzuzeigen, um mit Emotionen umzugehen und sie mitzuteilen.

Basierend auf unseren Erfahrungen mit traumatisierten Kindern, wissen wir heute, dass es für ihr Wohlbefinden und für eine positive Prognose ihres Zustandes sehr wertvoll ist, wenn es ihnen erlaubt wird, ihre Gefühle zu fühlen, mitzuteilen und sich mit ihnen anzufreunden. Die Tatsache, dass es bei manchen der sehr grausamen und furchtbaren Erfahrungen fachkundiger psychotherapeutischer Hilfe bedarf, widerspricht nicht dem Bedürfnis dieser Kinder, ein starkes Bewusstsein ihrer emotionalen Reaktionen zu entwickeln und zu lernen, wie sie mit ihnen in einem sozialen Kontext umgehen können.

«Sie müssen fast alles, was Ihnen als Fachleute über Aggression beigebracht wurde, beiseite legen und Ihre Herzen diesen Not leidenden Kindern öffnen.»

Diese einfache Botschaft legt einen verbindlichen und freundlichen Ton fest, sie bestimmt die gewünschte Kultur und deren Grenzen innerhalb der Einrichtung und teilt die Kinder nicht in gute und böse Menschen auf. Der Ausdruck: du bist hier, um zu lernen und ich bin hier, um dir beim Lernen zu helfen – ist eine andere Art, die Botschaft zu übersetzen. Des Weiteren wird es gewinnbringend sein, die allgemeine Bereitschaft zu vermitteln, alle menschlichen Gefühle anerkennen, sie benennen und über sie sprechen zu wollen. Kinder aus beiden der oben genannten Gruppen werden in dieser Atmosphäre aufblühen und Kindern, die spezifischere Hilfe und Führung bedürfen, wird das Annehmen dieser Hilfe erleichtert.

Anders formuliert müssen Sie und Ihre Kollegen fast alles, was Ihnen als Fachleute über Aggression und wie man mit ihr umgeht beigebracht wurde, beiseite legen und Ihre Herzen diesen Not leidenden Kindern öffnen. Wenn meine Worte Ihnen nicht Grund genug geben, dies zu tun, so ermutige ich Sie, einen ehrlichen Blick auf die pädagogische Praxis und auf die pädagogische Grundhaltung der letzten 30 Jahren zu werfen und sich mit der Tatsache abzufinden, dass diese nicht zufriedenstellend funktioniert haben – weder für individuelle Kinder und ihre Eltern, noch für die pädagogischen Einrichtungen oder für das, was auf den Straßen in der Nacht passiert. Es ist in jeder Einrichtung möglich, Regeln festzulegen, die gewisse Verhaltensmuster unterbinden, aber für jene Kinder, die in der Lage sind, diese Regeln zu befolgen, haben sie nur einen begrenzten Wert. Jene Kinder aber, die es manchmal unmöglich finden, sie zu befolgen, ziehen keinen Nutzen aus ihnen und auch nicht aus den Konsequenzen, die sie erleiden, wenn sie sie brechen.
Einführung von Fachleuten

Es ist wertvoll für alle Kinder, und ganz besonders für die verwundbaren Kinder, wenn Sie Fachleute wie Psychologen, Physiotherapeuten, Logopäden, Ergotherapeuten, Kinder- Neuropsychologen und -psychiater und andere einschlägige Experten in Ihre Einrichtung einladen. Die Aufgabe dieser Menschen ist es, ihre Arbeit den Kindern direkt vorzustellen, sie aufzufordern, ihre Fragen zu stellen und sie einzuladen, am Gespräch teilzunehmen, und ihnen sehr offen und aufrichtig zu erklären, was sie für die Kinder tun können. Dies wird dazu beitragen, ihre verschiedenen Berufe zu entmystifizieren, und es wird die Akzeptanzgrenze unter den Kindern anheben und Hänseln und Drangsalierungen vorbeugen.

Ich bin mir vollkommen bewusst darüber, dass diese Vorschläge mit grösserer Wahrscheinlichkeit von Kindergärten als von Schulen umgesetzt werden. Dennoch ist es wichtig zu betonen, dass viele der traditionellen Aktivitäten wie Malen, Zeichnen, Spielen, Schauspielern, Märchen und Geschichten lesen usw. sehr wertvoll für verwundbare und traumatisierte Kinder sind. Nicht nur wegen ihrer vertrauten Qualitäten, sondern auch, weil sie eine Erfahrung von Normalität vermitteln, die für ihre psychosoziale Entwicklung essenziell ist.

Die Richtlinien, um die bereits bestehende Kultur zu stärken oder eine neue zu erschaffen, sind: Inklusion, Empathie und Freundschaft. Viele Wissenschaftler haben die traurige Tatsache bestätigt, dass Kinder, die diese Qualitäten am dringendsten von Fachkräften brauchen, meist am wenigsten davon bekommen. Lassen Sie sich von verwundbaren und traumatisierten Kindern nicht erschrecken. Machen es Sie zur Gewohnheit, ihr Verhalten als Einladung an Sie und Ihren vielen menschlichen und professionellen Qualitäten zu verstehen.

© Jesper Juul, Familylab International.

Quelle



Du trägst das Heilmittel in Deinem eigenen Herzen.

Emotionale Misshandlung von Kindern kann im Erwachsenenalter zu Abhängigkeit, Wut, einem ernsthaft beschädigten Selbstgefühl und zur Unfähigkeit, mit anderen echte Bindungen einzugehen, führen. Aber - selbst wenn es dir passiert ist - es gibt einen Weg hinaus.

von Andrew Vachss
Ursprünglich erschienen im Parade Magazine, 28. August 1994

Der Rechtsanwalt und Autor Andrew Vachss hat sein Leben dem Schutz von Kindern gewidmet. Wir baten Vachss, einen Experten für das Thema Kindesmisshandlung, eine ihrer vielleicht komplexesten und verbreitetsten Formen zu untersuchen - emotionale Misshandlung: Was sie ist, was sie mit Kindern macht, was deswegen getan werden kann. Vachss' neuester Roman, "Down in the Zero", soeben bei Knopf veröffentlicht, beschreibt emotionale Misshandlung in ihrer monströsesten Form.

Ich bin Rechtsanwalt mit einem ungewöhnlichen Spezialgebiet. Meine Klienten sind alle Kinder - geschädigte, Schmerzen erleidende Kinder, die sexuell angegriffen, körperlich misshandelt, ausgehungert, ignoriert, verlassen wurden und jede andere lausige Sache erfuhren, die ein Mensch einem anderen antun kann. Menschen, die wissen, was ich tue, fragen immer: Was ist der schlimmste Fall, mit dem sie sich je befasst haben? Wenn Sie in einem Geschäft sind, wo ein Baby, das früh stirbt, das glücklichste Kind in der Familie sein mag, gibt es darauf keine einfache Antwort. Aber ich habe darüber nachgedacht - ich denke jeden Tag darüber nach. Meine Antwort ist, dass von all den vielen Formen von Kindesmisshandlung, emotionale Misshandlung die grausamste und am längsten währende von allen sein mag.

Emotionale Misshandlung ist die systematische Verkleinerung des anderen. Sie kann absichtlich oder unterbewusst (oder beides) sein, aber sie ist immer eine Verhaltensweise, nicht ein einzelner Vorfall. Sie ist darauf angelegt, das Selbstbild eines Kindes auf den Punkt zu reduzieren, wo das Opfer sich des natürlichen Geburtsrechts aller Kinder für unwert erachtet: Liebe und Schutz.

Emotionale Misshandlung kann so vorsätzlich sein wie ein Gewehrschuss: "Du bist fett. Du bist dumm. Du bist hässlich."

Emotionale Misshandlung kann so blindlings sein wie der Fallout einer Nuklearexplosion. In ehelichen Auseinandersetzungen zum Beispiel werden die Kinder allzu oft zum Schlachtfeld. Ich erinnere mich an einen Jungen, kaum in seinen Teenagerjahren, der abwesend die frischen Narben an seinen Handgelenken rieb. "Es war der einzige Weg, sie alle glücklich zu machen," sagte er. Seine Mutter und sein Vater waren in einen Scheidungskrieg verstrickt, und jeder verlangte völlige Loyalität und Verbundenheit von dem Kind.

Emotionale Misshandlung kann aktiv sein. Boshaftes Herabsetzen: "Du wirst niemals so erfolgreich sein wie es dein Bruder war." Bewusste Demütigung: "Du bist so dumm. Ich schäme mich, dass du mein Sohn bist."

Sie kann auch passiv sein, die emotionale Entsprechung von Kindesvernachlässigung - eine Unterlassungssünde, wahrlich, aber darum nicht weniger zerstörerisch.

Und es kann eine Kombination von beidem sein, was die negativen Wirkungen geometrisch anwachsen lässt.

Emotionale Misshandlung kann verbal oder im Verhalten, aktiv oder passiv, regelmäßig oder gelegentlich stattfinden. Ungeachtet dessen ist sie oft ebenso schmerzhaft wie ein körperlicher Angriff. Und, mit seltenen Ausnahmen, dauert der Schmerz viel länger an. Die Liebe eines Elternteils ist für ein Kind so wichtig, dass sie ihm vorzuenthalten einen Zustand des "Scheiterns in der Entwicklung" verursachen kann, ähnlich dem von Kindern, denen man eine angemessene Ernährung verweigert hat.

Selbst der natürliche Trost von Geschwistern wird denjenigen Opfern emotionaler Misshandlung verweigert, die als das "Zielscheiben-Kind" der Familie ausersehen sind. Die anderen Kinder sind schnell dabei, ihre Eltern zu imitieren. Anstatt die Fähigkeiten zu erlernen, die jedes Kind als ein Erwachsener brauchen wird - Einfühlungsvermögen, Fürsorglichkeit und Beschützen - lernen sie die Boshaftigkeit einer Hackordnung. Und so setzt sich der Kreislauf fort.

Aber ob als absichtliches Ziel oder unschuldiger Zuschauer, das emotional misshandelte Kind kämpft zwangsläufig darum, das Verhalten seiner Misshandler zu "erklären" - und endet, um sein Überleben kämpfend, in einem Treibsand der Selbstbeschuldigung.

Emotionale Misshandlung ist sowohl die verbreitetste als auch die am wenigsten verstandene Form von Kindesmisshandlung. Über ihre Opfer wird oft hinweggesehen, einfach, weil ihre Wunden nicht sichtbar sind. In einem Zeitalter, in welchem neue Enthüllungen von unaussprechlichen Kindesmisshandlungen tägliche Kost sind, werden Schmerz und Qual jener, die "nur" emotionale Misshandlung erfahren haben, oft trivialisiert. Wir verstehen und akzeptieren, dass die Opfer von körperlicher und sexueller Misshandlung gleichermaßen Zeit wie eine spezielle Behandlung brauchen, um zu gesunden. Doch wenn es zu emotionaler Misshandlung kommt, glauben wir anscheinend, dass die Opfer "einfach darüber hinwegkommen", wenn sie Erwachsene werden.

Diese Annahme ist gefährlich falsch. Emotionale Misshandlung entstellt das Herz und schädigt die Seele. Wie Krebs verrichtet sie ihre tödlichste Arbeit im Inneren. Und, wie Krebs, kann sie, wenn sie unbehandelt bleibt, Metastasen bilden.

Wenn es zur Schädigung kommt, gibt es keinen wirklichen Unterschied zwischen körperlicher, sexueller und emotionaler Misshandlung. Alles, was das eine vom anderen unterscheidet, ist die Wahl der Waffen des Misshandlers. Ich erinnere mich an eine Frau, eine Großmutter, deren Misshandler schon lange gestorben waren, die mir sagte, dass die Zeit ihren Schmerz nicht besiegt hatte. "Es war nicht nur der Inzest," sagte sie ruhig. "Es war, dass er mich nicht liebte. Wenn er mich geliebt hätte, hätte er mir das nicht antun können."

Aber emotionale Misshandlung ist einzigartig, weil sie darauf abzielt, das Opfer sich schuldig fühlen zu lassen. Emotionale Misshandlung ist ein wiederholtes und letztlich sich summierendes Verhalten - sehr leicht zu imitieren - und einige Opfer setzen den Kreislauf später mit ihren eigenen Kindern fort. Obwohl die meisten Opfer diese Antwort mutig zurückweisen, Ist ihr Leben oft von einer tiefen, durchdringenden Traurigkeit gekennzeichnet, einem ernsthaft beschädigten Selbstbild und einer Unfähigkeit, sich wirklich mit anderen einzulassen und mit ihnen eine Bindung einzugehen

Wir müssen auch die Lüge ablehnen, dass emotionale Misshandlung gut für Kinder ist, weil sie sie für ein hartes Leben in einer rauen Welt vorbereite. Ich habe einige Individuen getroffen, die auf diese Art auf ein hartes Leben vorbereitet wurden - ich traf sie, während sie lebenslänglich einsaßen.
Emotional misshandelte Kinder wachsen mit einer bedeutsam veränderten Wahrnehmung auf, sodass sie Verhaltensweisen - die eigenen und die anderer - durch einen verzerrenden Filter sehen. Viele emotional misshandelte Kinder verstricken sich in ein lebenslanges Streben nach der Anerkennung anderer (die sie als "Liebe" übersetzen). So begierig sind sie nach Liebe - und so überzeugt davon, dass sie sie nicht verdienen - dass sie Hauptkandidaten für Misshandlung in intimen Beziehungen sind.

Das emotional misshandelte Kind kann man im Inneren jeder geschlagenen Frau hören, die darauf besteht: "Es war mein Fehler, wirklich. Ich scheine ihn einfach irgendwie zu provozieren."

Und das beinahe unausweichliche Scheitern von Erwachsenen-Beziehungen bekräftigt dieses Gefühl von Wertlosigkeit, vernebelt das Verbrechen, das durch das Leben der Opfer nachhallt.

Emotionale Misshandlung bestimmt das Kind dahingehend, Misshandlung im späteren Leben zu erwarten. Emotionale Misshandlung ist eine Zeitbombe, aber ihre Wirkungen sind selten sichtbar, weil die emotional Misshandelten dazu neigen, zu implodieren, die Wut gegen sich selbst zu richten. Und wenn jemand äußerlich in den meisten Lebensbereichen erfolgreich ist, wer schaut nach innen, um die verborgenen Wunden zu sehen?

Mitglieder einer Therapiegruppe mögen in Alter, sozialer Klasse, ethnischer Zugehörigkeit und Beschäftigung weit auseinander liegen, aber alle zeigen irgendeine Form von selbstzerstörerischem Verhalten: Fettleibigkeit, Drogenabhängigkeit, Anorexie, Bulimie, häusliche Gewalt, Kindesmisshandlung, versuchter Selbstmord, Selbstverstümmelung, Depressionen und Wutanfälle. Was sie in Behandlung brachte, waren ihre Symptome. Aber bis sie sich der einen Sache zuwenden, die sie gemeinsam haben - eine Kindheit der emotionalen Misshandlung - ist eine echte Gesundung unmöglich.

Eines der Ziele jeder Kinder schützenden Bemühung ist es, "den Kreislauf der Misshandlung zu durchbrechen." Wir sollten uns nicht täuschen, dass wir den Kampf leicht gewinnen, weil so wenige Opfer von emotionaler Misshandlung selbst Misshandler werden. Einige emotional misshandelte Kinder sind so effektiv darauf programmiert, zu scheitern, dass ein Teil ihrer eigenen Persönlichkeit sich "selbst Eltern verschafft," indem sie sich selbst herabsetzen und demütigen.

Der Schmerz hört mit dem Erwachsensein nicht auf. Tatsächlich verschlimmert er sich für einige. Ich erinnere mich an eine junge Frau, eine ausgebildete Fachfrau, charmant und freundlich, von allen gemocht, die sie kannten. Sie sagte mir, dass sie nie Kinder haben würde. "Ich hätte immer Angst, so zu handeln wie sie," sagte sie.

Anders als die meisten Formen von Kindesmisshandlung wird emotionale Misshandlung von denen, die sie praktizieren, selten geleugnet. Tatsächlich verteidigen viele aktiv ihre psychologische Brutalität, indem sie geltend machen, dass eine Kindheit der emotionalen Misshandlung ihren Kindern helfe, "widerstandsfähiger zu werden." Es reicht nicht, wenn wir die pervertierte Meinung ablehnen, dass Kinder zu schlagen gute Bürger hervorbrächte - wir müssen auch die Lüge ablehnen, dass emotionale Misshandlung gut für Kinder ist, weil sie sie für ein hartes Leben in einer rauen Welt vorbereite. Ich habe einige Individuen getroffen, die auf diese Art auf ein hartes Leben vorbereitet wurden - ich traf sie, während sie lebenslänglich einsaßen.

Die wichtigste Waffe emotionaler Misshandler ist die absichtliche Auferlegung von Schuld. Sie benutzen Schuld auf dieselbe Weise wie ein Kredithai Geld benutzt: Sie wollen die "Schulden" nicht getilgt haben, weil sie ganz glücklich von den "Zinsen" leben.

Wenn dein Selbstbild zerfetzt wurde, wenn du tief verletzt wurdest, und man dir das Gefühl gab, die Verletzung wäre nur deine Schuld, wenn du nach Anerkennung bei jenen suchst, die sie dir nicht verschaffen können oder wollen - spielst du die Rolle, die dir von deinem Misshandler zugewiesen wurde.
Weil emotionale Misshandlung in so vielen Formen (und so vielen Verkleidungen) erscheint, ist das Erkennen der Schlüssel für eine wirksame Antwort. Zum Beispiel, wenn Behauptungen von sexueller Kindesmisshandlung an die Oberfläche kommen, ist es eine besonders abscheuliche Form von emotionaler Misshandlung, Druck auf das Opfer auszuüben, die Behauptung zurückzunehmen, indem man sagt, er oder sie "schade der Familie," indem er oder sie die Wahrheit sagt. Und genau dasselbe gilt, wenn ein Kind gezwungen wird, die Lüge von einem "liebenden" Elternteil aufrechtzuerhalten

Emotionale Misshandlung erfordert überhaupt kein körperliches Verhalten. In einem außergewöhnlichen Fall erkannte eine Jury in Florida das tödliche Potential von emotionaler Misshandlung an, indem sie eine Mutter in Verbindung mit dem Selbstmord ihrer siebzehnjährigen Tochter für schuldig befand, die sie gezwungen hatte, als Nackttänzerin zu arbeiten (und von ihrem Verdienst gelebt hatte.)

Eine andere, selten verstandene Form von emotionaler Misshandlung macht Opfer für ihre eigene Misshandlung verantwortlich, indem man von ihnen verlangt, dass sie den Täter "verstehen." Einem zwölf Jahre alten Mädchen zu sagen, dass sie ihren eigenen Inzest "ermöglicht" hat, ist emotionale Misshandlung vom abstoßendsten.

Ein besonders schädlicher Mythos ist der, dass Heilung "Vergebung" für den Misshandler erfordere. Für das Opfer von emotionaler Misshandlung ist die lebensfähigste Form von Hilfe Selbst-Hilfe - und ein Opfer, das von der Notwendigkeit, dem Misshandler zu "vergeben" gehandicapt ist, ist in der Tat ein gehandicapter Helfer. Der schädigendste Fehler, den ein Opfer von emotionaler Misshandlung machen kann, ist, in die "Rehabilitierung" des Misshandlers zu investieren. Zu oft wird dies nur zu einem weiteren Wunsch, der nicht wahr wird - und emotional misshandelte Kinder werden folgern, dass sie kein besseres Ergebnis verdienen.

Die Schäden von emotionaler Misshandlung können nicht an sichtbaren Narben gemessen werden, aber jedes Opfer verliert einen Prozentsatz seiner Leistungsfähigkeit. Und diese Leistungsfähigkeit bleibt so lange verloren, wie das Opfer in dem Kreislauf von "Verstehen" und "Vergebung" feststeckt. Der Misshandler hat kein "Recht" auf Vergebung - solche Wohltaten können nur verdient werden. Und obwohl der Schaden mit Worten angerichtet wurde, kann echte Vergebung nur mit Taten verdient werden.

Für jene mit einem idealisierten Begriff von "Familie" ist die Aufgabe sogar noch schwieriger, es zurückzuweisen, die Schuld für die eigene Opferung zu akzeptieren. Für solche Sucher ist der Schlüssel zur Freiheit immer die Wahrheit - die wirkliche Wahrheit, nicht die verzerrte, eigennützige Version, die die Misshandler andienen.

Emotionale Misshandlung droht eine nationale Krankheit zu werden. Die Popularität gehässiger, niedrig gesinnter, persönlich angreifender Grausamkeit, die als "Unterhaltung" durchgeht, ist nur ein Beispiel. Wenn die Gesellschaft inmitten einer moralischen und geistigen Erosion ist, wird eine "Familie," die auf der emotionalen Misshandlung ihrer Kinder gegründet ist, nicht die Stellung halten. Und es zeigen sich keine unmittelbaren Anzeichen, dass das Blatt sich wendet.

Die wirksame Behandlung von emotionalem Misshandlern hängt von der Motivation für das ursprüngliche Verhalten ab, der Einsicht in die Wurzeln solchen Verhaltens und dem aufrichtigen Verlangen, dieses Verhalten zu ändern. Für einige Misshandler ist, zu sehen, was sie ihrem Kind antun - oder, noch besser, zu fühlen, was sie ihr Kind zu fühlen zwangen - genug, sie Halt machen zu lassen. Andere Misshandler brauchen Hilfe durch Strategien, mit ihrem eigenen Stress umzugehen, sodass er sich nicht auf ihre Kinder entlädt.

Doch für einige emotionale Misshandler ist Rehabilitierung nicht möglich. Für solche Menschen ist Manipulation eine Lebensweise. Sie errichten ein "Familien"-System, in dem es dem Kind niemals gelingen kann, die Liebe des Elternteils zu "verdienen." In solchen Situationen ist jede Betonung auf die "Heilung der ganzen Familie" zum Scheitern verurteilt.

Wenn du ein Opfer von emotionaler Misshandlung bist, kann es keine Selbst-Hilfe geben, bis du Selbst-Bezüglichkeit lernst. Das bedeutet, deine eigenen Maßstäbe zu entwickeln, für dich selbst zu entscheiden, was "Güte" wirklich ist. Die kalkulierten Bezeichnungen des Misshandlers zu übernehmen - "Du bist verrückt. Du bist undankbar. Es ist nicht so passiert, wie du sagst" - setzt nur den Kreislauf fort.

Erwachsene Überlebende von emotionaler Kindesmisshandlung haben nur zwei Wahlmöglichkeiten im Leben: lernen, sich auf sich selbst zu beziehen, oder ein Opfer bleiben. Wenn dein Selbstbild zerfetzt wurde, wenn du tief verletzt wurdest, und man dir das Gefühl gab, die Verletzung wäre nur deine Schuld, wenn du nach Anerkennung bei jenen suchst, die sie nicht verschaffen können oder wollen - spielst du die Rolle, die dir von deinem Misshandler zugewiesen wurde.

Es ist Zeit, aufzuhören, diese Rolle zu spielen, Zeit, dein eigenes Manuskript zu schreiben. Opfer von emotionaler Misshandlung tragen das Heilmittel selbst in ihren Herzen und Seelen. Rettung heißt Selbst-Respekt lernen, den Respekt anderer verdienen, und diesen Respekt zu dem absolut unreduzierbaren erforderlichen Minimum für alle intimen Beziehungen zu machen. Für das emotional misshandelte Kind ergibt sich aus Heilung "Vergebung" - Vergebung für dich selbst.

Wie du dir vergibst, ist so individuell wie du es bist. Aber das Wissen, dass du es verdienst, geliebt und respektiert zu werden, und dich selbst zu ermutigen mit der festen Absicht, es zu versuchen, ist mehr als die Hälfte des Kampfes. Viel mehr.

Und es ist niemals zu früh - oder zu spät - um anzufangen.


© 2000 Andrew Vachss. All rights reserved.

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„Das eigene Sein des Kindes wird nicht akzeptiert.
Stattdessen muss es den Erwartungen der Eltern entsprechen.
Die eigenen Bedürfnisse des Kindes haben keinen Platz.

Was ein Kind in sich spürt, muss verborgen werden, weil es die Beziehung zu den Eltern gefährdet.
Das kann ein Kind sich nicht leisten, denn es ist auf die Versorgung durch die Eltern angewiesen. Um diese Versorgung zu sichern, muss ein Kind das Eigene, das von den Eltern zurückgewiesen wird, beiseiteschieben.
Das Eigene wird als etwas Fremdes abgespalten, das Kind entfremdet sich von seiner eigenen Sichtweise und seinem eigenen Erleben.
Um überleben zu können, arrangiert sich das Kind mit den Eltern - es fängt an, die Eltern, so missbrauchend und lieblos sie auch sein mögen, zu idealisieren.

Das Kind kann die Eltern nur dann als liebevoll erleben, wenn es ihre Grausamkeit als Reaktion auf sein eigenes Wesen interpretiert - die Eltern sind grundsätzlich gut; wenn sie einmal schlecht sind, dann ist das Kind selbst daran schuld.

Damit übernimmt das Kind die lieblose Haltung der Eltern sich selbst gegen über. Alles, was ihm eigen ist - seine Gefühle, seine Bedürftigkeit, seine Art der Wahrnehmung wird zu einer existenziellen Bedrohung und deshalb gehasst.

Die Identität, die ein so erzogenes Kind entwickelt, orientiert sich nicht an eigenen inneren Prozessen, sondern am Willen einer Autorität. Zugleich aber lauert im Hintergrund die Wahrnehmung über die Eltern, wie sie wirklich sind. Das macht dem Kind Angst, es muss sich vor dieser Wahrheit schützen, indem es auf dem idealisierten Bild, der Pose der Eltern beharrt. Deshalb hasst es alles, was es an das abgespaltene Eigene erinnert.

... (...) ...

Liebe und liebevolle Personen werden zum Feind, weil sie die früheren
zurückgewiesenen Bedürfnisse nach echter Liebe und damit den alten Terror zu wecken drohen. Wahre Liebe kann nicht ertragen werden, wenn die Unzulänglichkeit der Eltern verdeckt werden muss. Wirkliche Liebe wird unerträglich, denn sie würde die ursprüngliche Verletzung bloßlegen. Man möchte dann Liebe ausgerechnet von Menschen, die reserviert sind und nichts geben. Hingegen erscheint einem die Liebe derer, die Liebe leicht geben, verdächtig. Sie wird entweder als wertlos oder als Mittel zum Zweck empfunden.“


Arno Gruen

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Ich bin ein Schmetterling,
trunken vor Leben.
Ich weiß nicht,
wohin ich fliege,
aber ich werde
dem Leben
nicht erlauben,
meine farbenprächtigen
Flügel zu stutzen.

- Janusz Korczak –

Ein Großer. Wegbereiter für die Rechte der Kinder.