Ach, die Jugend!

„Als neulich Schnee lag und meine Nachbarskinder ihre kleinen Schlitten auf der Straße ausprobieren wollten, sogleich war ein Polizeidiener nahe, und ich sah die armen Dingerchen fliehen, so schnell sie konnten. Jetzt, wo die Frühlingssonne sie aus den Häusern lockt und sie mit Ihresgleichen vor ihren Türen gerne ein Spielchen machten, sehe ich sie immer geniert, als wären sie nicht sicher und als fürchteten sie das Herannahen irgendeines polizeilichen Machthabers. Es darf kein Bube mit der Peitsche knallen oder singen oder rufen, sogleich ist die Polizei da, es ihm zu verbieten. Es geht bei uns alles dahin, die liebe Jugend frühzeitig zahm zu machen und alle Natur, alle Originalität und alle Wildheit auszutreiben, so daß am Ende nichts übrigbleibt als der Philister.“ (Goethe)

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Ich arbeite seit Jahren sehr viel mit Kindern im Vor- und Grundschulbereich, verbunden mit einer intensiven Elternarbeit. Diese kleinen Wesen sind offen, kreativ, lebendig, aufsässig, fragend, neugierig bis zum Anschlag, hoch motiviert und motivierbar. Dann treffe ich sie in der Regel in der siebten/achten Klasse wieder (intensive Elternarbeit kann dann oft nur noch durch eine recht provozierende Einladung von mir initiiert werden). Aus den quicklebendigen Wesen sind oft "coole", desinteressierte, abgenervte, gelangweilte, desillusionierte, aggressive, unglückliche junge Menschen geworden. Was könnten mögliche Gründe dafür sein? Was ist schief gelaufen in der Zwischenzeit?
Sicherlich, die Pubertät tobt durch Körper und Gemüt. Ein sehr beliebtes Argument der Erwachsenen. Oder die neuen Medien sind schuld dran. Die Beteiligung an Elternabenden nimmt rapide an Quantität und Lautstärke zu, wenn dieses wunderbar entlastende Argument in den Raum kullert. Ich glaube und traue all diesen und anderen so einseitig Schuld, oder besser Verantwortung, zuschreibenden Erklärungen nicht. Sie mögen ihren Anteil haben, sicher.

Aber, und dieses Aber ist ein dickes, ist es nicht vielmehr auch so, dass die fragenden, neugierigen, vertrauensvollen Kinder von damals inzwischen klug genug sind unsere erwachsenen Spiele, unsere Inkonsequenzen, unsere Lügen, unsere gelebten und verdrängten Widersprüche zu durchschauen? Haben sie uns inzwischen nicht gemessen an den Ansprüchen und Werten, die wir ihnen vor Jahren so wunderschön abends vor dem Einschlafen über Geschichten und Märchen und in Gesprächen vermittelten? Müssen sie nicht unendlich verwirrt und enttäuscht sein, wenn sie feststellen: Wir sind nicht was wir sagen und die Welt ist es schon gar nicht.

Haben wir ihnen Handlungsmuster an die Hand gegeben, mit denen sie mit diesen Widersprüchlichkeiten umgehen zu können gelernt haben? Sind wir Vorbilder in Selbstkritik, Reflexion, Zivilcourage? Haben sie von uns, durch unser Handeln Wohlwollen, Mitgefühl, Liebe gelernt? Haben sie außer Regeln und Pflichten auch gelernt, dass man manchmal die Konsequenzen von Regelbrüchen bewusst in Kauf nehmen muss, einfach weil es das wert ist und dass man neben Pflichten, gleichwertig, auch Rechte hat? Haben sie erfahren, dass wir da sind, wenn sie uns brauchen - ich meine real da, nicht nur am Telefon, über den Messenger oder nach Terminkalender? Haben sie erlebt, dass es unsere Aufgabe ist, uns zu kümmern und zu sorgen und zwar ohne jeden Anspruch auf Gegenleistung? Haben wir ihnen oft genug gesagt, dass sie gewollt und geliebt sind, ohne Wenn und Abers? Lassen wir los, wenn Lossagen angesagt ist und legen wir unsere Arme zärtlich und schützend ohne zu erdrücken um sie, wenn sie straucheln?

Oh ja, ich könnte so weiter und weiter schreiben. Nein, es gibt bestimmt keine eindimensionalen Erklärungen und die Verantwortlichkeiten sind vielschichtig verteilt. Nur werde ich traurig und immer öfter wütend, wenn ich die Sprüche von der schrecklichen heutigen Jugend und all dem höre. Da ist nichts Schreckliches. Da ist nur solch eine brennende Sehnsucht, schmerzende Einsamkeit, solch eine abgrundtiefe Hoffnungs- und Hilflosigkeit und nicht mal ein Hauch von Lösungskompetenz bei so vielen.

Und nein, ich entschuldige damit gar nichts und wiegle auch nicht ab. Kriminelle Jugendliche gehören auf den heißen Stuhl und haben die Konsequenzen ihres Verhaltens zu tragen. Nur, sollten wir nicht einen klitzekleinen Augenblick innehalten und uns fragen: Wenn wir nicht rückgängig machen können, sollten wir dann nicht jetzt und sofort bei nachfolgenden Generation anders?

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Welt und sich selbst zu entdecken heißt auch Grenzen auszuprobieren. Sozialverhalten lehrt und lernt sich nicht einfach durch Grenzsetzung und unbedingten Gehorsam. Da will be"griffen" werden. Kinder ernst zu nehmen bedeutet auch, sie wohlwollend zu begleiten. Begleitung ist für mich nicht "Arbeit". Ich kann mit dem Begriff Erziehungsarbeit nichts anfangen. Irgendwie habe ich dann immer die Assoziation von "solange du deine Füße unter meinen Tisch...". Genau darum geht es nicht. Kinder haben ein Recht auf unsere Aufmerksamkeit, unsere Zeit, unsere Geduld und Versorgung. Ohne Aufrechnungen.

Ja, ich kenne dieses Argument mit den Eltern der 70er Jahre. "Antiautoritäre Erziehung" ist mittlerweile in Deutschland ein Todschlagargument in jeder Diskussion über Werteerziehung und Verantwortlichkeiten geworden. Leider weiß ich aber auch, dass kein anderer Begriff derart oft ohne Wissen um seine Geschichte und Inhalte benutzt wurde und wird.

Ich habe meine Kinder damals bewusst in einen Kinderladen gegeben und bewusst in dieser Form mit Kindern und Eltern gearbeitet. Und ich kann nur versichern, wenn man diese Form der Pädagogik nicht nur als sinnentleertes Aushängeschild für seine Einrichtung benutzte, sondern sich an den Grundgedanken orientierte und weiterentwickelte, dann hat dies mit " Laissez-Fair" nichts, aber gar nichts zu tun. Es bedeutet hoch aufmerksam und konzentriert immer anwesend zu sein. Immer zu wissen, wo das Kind gerade steht, wo befindet es sich innerhalb der Gruppe, wie es ihm geht, wie es in seinen anderen Umfeldern aussieht. Immer im Hier und Jetzt neben dem Kind zu sein. Permanent sein eigenes Tun zu überprüfen. Begleiten bedeutet nicht, einfach nur den gleichen Weg nebeneinander herzulaufen. Es bedeutet das Gegenüber ständig reziprok wahrzunehmen, damit man im richtigen Moment stützen oder loslassen kann. Elternarbeit in diesem Zusammenhang bedeutet deshalb auch nicht nur ab und an Elternabende durchzuführen. Sondern in einem permanenten offenen Austausch mit den Eltern zu stehen. Tag für Tag. Da geht es um mehr als nur um Gespräche über "Erziehung". Es geht um eine ganzheitliche Zusammenarbeit zum Wohle des Kindes.

Nun, ich kann hier nicht all meine Erfahrungen der letzten Jahrzehnte darlegen. Mein bestes Argument sind eh die Jugendlichen, die aus unserer bzw. aus Einrichtungen mit ähnlichen Vorstellungen und Tun hervorgegangen sind. Ich empfehle einfach mal sich die Langzeitstudien zum Beispiel zu Freien Schulen im angloamerikanischen Raum anzusehen. Sie sprechen für sich. Allerdings, und auch dies sei gesagt: in unserem Lande haben wir in kürzester Zeit sogar diesen äußerst positiven Ansatz, aus welchen Gründen auch immer, entkernt und in verquerter Art und Weise in unser bisheriges Erziehungssystem eingepasst. Und vieles, was heute rückwirkend als "antiautoritäre Erziehung" verschrien wird, hatte niemals auch nur im Ansatz etwas damit zu tun.

Die ersten Jahre sind die wesentlichen Jahre. Wird hier etwas falsch angelegt, dann lässt es sich auch mit noch so tollen und teuren Programmen in der Jugendzeit nicht mehr grundlegend verändern. Leider schafften wir es bisher nicht dieses Wissen in konkrete äußere Formen zu gießen, die es jungen Eltern und außerfamiliären Erziehungseinrichtungen erlaubt sich adäquat dieser Herausforderung zu stellen.

Wiederholung: "Wir können!"

Weil es so wichtig ist -> 

Können wir Kinder vor Gewalt in jedweder Form und deren Folgen schützen?

Immer? Nein. Immer öfters? Natürlich. Könnten wir. Wir könnten eine Menge tun:

Wir könnten uns bedingungslos an ihre Seite stellen. Wir könnten jedwede Form von Gewalt sofort laut und deutlich an- und aussprechen.

Wir könnten ein gesellschaftliches Klima schaffen, in dem Gewalt, Erniedrigung, Liebes- und Fürsorgeentzug, Erpressung, Ausbeutung und Einschüchterung keine anerkannten oder stillschweigend hingenommenen Formen des Umganges mit Kindern mehr sind.

Wir könnten das Wohl des Kindes über die elterliche Verfügungsgewalt und den Schutz der Familie stellen.

Wir könnten unsere Gesetzgebung schärfen und Verjährungsfristen in Fällen jeglicher Gewalt gegen Kinder in die Mülltonne kloppen.

Und wir könnten als pädagogischen Grundkonsens vereinbaren und leben: Macht Kinder stark und selbstbewusst, lehrt sie "nein!" zu sagen, selbstständige Entscheidungen treffen zu können, eigene Meinungen zu haben, widerständig zu sein und sich mit Autoritäten kritisch auseinanderzusetzen.

Wir könnten ihnen Raum für die Entwicklung ihrer! Persönlichkeiten geben und sie nicht zu Abziehbildern unserer unterdrückten Erwachsenenträume erziehen.

Wir könnten den Kindern von klein auf ihre Rechte beibringen und diese, für sie und mit ihnen, ohne Wenn und Aber in jeder Situation vehement verteidigen.

Wir könnten aus dem "Könnten" ein Können machen. Können wir!

Gelassenheit und Vertrauen

Das Schöne ist ja: Kleine Kinder wollen und können gar nicht anders als zu lernen. KleinMadame (3J) isst mit Gabel, hält den Stift richtig in den Fingern, rennt Pipi/Kacka schreiend kichernd auf die Toilette, schwatzt uns in ganzen vollständigen Sätzen das Ohr ab, räumt aus und ein und weg und denkt sich eigene Spiele und Geschichten aus, will, will nicht, lacht und weint und singt und tanzt, setzt Grenzen, rennt gegen Grenzen an, erweitert, akzeptiert, probiert aus, entdeckt sich und die Welt mit unendlicher Neugierde ... ... und, und, und. Alles das, alles in ihrem eigenen Tempo, ohne dass wir uns bisher über irgendeines dieser Dinge einen großen erzieherischen Kopf gemacht hätten. Sie lebt einfach mit uns, guckt zu und ab und macht ihr Ding. Und wir unseres. Und wir alle zusammen unser gemeinsames. Unsere Gelassenheit und unser gegenseitiges Vertrauen trägt uns. Das war es schon.

Wenn - Dann

„Kommt man wirklich ohne „wenn du nicht…, dann…“ im Zusammenleben mit Kindern aus?“

„Nöh. Weil wir keine Maschinen sind, weil Alltag stressig sein kann, weil wir oft ganz schrecklich hilflos und überfordert sind, weil es Situationen gibt, in denen aus allen Ecken an uns rumgezerrt wird, und, und, und.“

„Und dann?“

„Was dann? Wir brechen zusammen und fühlen uns sooooo schuldig. Sind schlechte Mütter und Väter und haben jetzt endgültig das Leben unserer Kinder total und ein für alle Mal versaut!... ... ... Quatsch!!! Ernsthaft: Darum geht es gar nicht. Es geht um die prinzipielle innere Haltung zum Kind. Um klare und immer wieder neu reflektierte und kalibrierte Rahmenrichtlinien in unseren Köpfen und Herzen. Eine Richtschnur, feste Säulen, Glaubenssätze, Leuchtfeuer, an denen wir uns entlang hangeln, scheitern, sie hinterfragen, die Richtung haltend und es wieder und wieder mit aller Kraft und unter dem Einbringen unserer ganzen Person versuchen.

Wer behauptet, er/sie hätte nie im Alltag auch schon in den pädagogischen Mistkübel gegriffen, der lügt bzw. belügt sich selbst. Es zu bemerken und dann zeitnah zu kommunizieren, darum geht es. Auch. Sich erklären, sich, wenn passend, zu entschuldigen. Es geht nicht um Rechtfertigung, denn im Recht war man da sicher nicht und es ist auch kein passender Begriff in diesem Kontext.

Auch ich habe zu meinen Kindern damals ab und an gesagt, dass ich keinen mehr Bock hätte, dies oder jenes zu tun, solange sie nicht vorher dies oder jenes machen würden. Auch ich bin wie ein Flummi hopsend durch die Wohnung gerast und habe die Wenn-Dann-Formel gebrüllt. Wobei, beim Füllen des Dann bin ich meistens hängen geblieben, weil mir nichts Gescheites einfiel. Brachte ja auch so gar nichts, wurde meistens sofort von mir bemerkt und in der Regel lagen wir dann gemeinsam lachend ob diesem absolut sinnlosen Unfug von mir im Flur oder auf der Couch. Oder wir hatten ein Gespräch am Küchentisch. Als sie älter waren, so Schuleintrittsalter, langte es oft, dass ich sie um Rat fragte: Euer Verhalten macht das und das mit mir, ich fühle mich dann so hilflos und überfordert. Ich weiß nicht, was ich dann machen soll, so ganz und gar nicht. Was würdet ihr denn an meiner Stelle tun? Es kamen immer tolle Vorschläge.

Allerdings gab es einmal ein Wenn-Dann, das ging tief, bei mir und bei ihnen: Die Zimmer sahen aus wie Müllhalden, es lebte quasi schon in allen Ecken und sie ignorierten mich völlig. Da rutschte mir, im ganz leisen Ton, raus: Wenn ihr nicht Kinder wärt, sondern Erwachsene, dann würde ich ab sofort nicht mehr mit euch zusammenwohnen, sondern euch einfach rausschmeißen. Weil ich keinem Erwachsenen erlauben würde, so mit mir umzugehen. Das saß. Bei ihnen und mir. … … … Wir haben dann gemeinsam eine Lösung gefunden. Martha. Eine Putzwunderbarefrau. Die machte, beim ersten Besuch, die klare Ansage zu den Kindern, und zwar direkt zu den Kindern, ich war da ganz außen vor, dass sie keinen Handschlag in ihren Zimmern machen würde, wenn nicht aufgeräumt sei. Also entzerrten wir das elendige Aufräumthema derart, dass nur noch am Abend vorher wir alle unseren Kram aufräumten und in den Tagen dazwischen es einfach kein Thema war. War eine tolle Zeit. Danke Martha!

Warum erzähl ich das alles? Weil ich klar stellen wollte, dass, trotz besserem Kopfwissen, keiner von uns 24 Stunden rund und perfekt läuft. Und das es darum halt einfach auch nicht geht. Die Kinder dürfen sehr wohl erleben, dass wir Fehler machen und toll unperfekt sein können. Dass es darum geht, das zu kommunizieren und sie am eigenen Lernprozess zu beteiligen. Und dass wir so viel voneinander lernen können. Und das wir gemeinsam für die Qualität unseres Zusammenlebens verantwortlich sind. Gemeinsam.  Denn sie sind, genau wie wir, die wirklichen Experten ihrer selbst.

War das jetzt irgendwie verständlich?“