Sich satt reden dürfen

KleinMadame, meine Enkelin, ist jetzt zweieinhalb Jahre alt. Sie redet wie ein Wasserfall. Noch ist nicht alles sofort verständlich für mich, aber sie ist hartnäckig und wiederholt sich so lange, bis ich wiederhole, was ich verstanden habe und sie damit einverstanden ist. Wir führen in dieser Art oft schon sehr lange Gespräche. Wenn sie von draußen kommt, macht sie unten bei mir Halt und erzählt, was sie alles erlebt hat. Oft sitzen wir auch auf der Treppe, ihr Lieblingsort für ernsthafte Plaudereien, und hören uns gegenseitig zu. Ich, und auch ihre Mutter, sind in der glücklichen Lage, dass wir uns die Zeit dafür nehmen können. Wichtigste Regel dabei: Wir lassen sie ausreden. Meint, sie bestimmt, wann das Gespräch zu Ende ist. Und wenn sie sich dreihundertfünfzehn Male wiederholt, so bekommt jede Wiederholung die gleiche Aufmerksamkeit, als hätte sie es gerade zum ersten Mal gesagt. Ich nenne dies satt werden dürfen am eigenen Mittteilungsbedürfnis. Ihre Sprechsprache wird dadurch von Tag zu Tag ausgefeilter und nuancenreicher. 

Dabei ging mir letztens wieder durch den Kopf, dass genau dies, die Ruhe und Gelassenheit im Zuhören, das sich Zeit nehmen und die Geduld im Wiederholen des eigenen Gesagten, in genau diesem Alter, die Basis dafür ist, dass dieses Kind auch in hormonell schwierigen Situationen in zehn, zwölf Jahren darauf vertrauen wird, bei seinen Bezugspersonen immer ein aufmerksames Ohr zu finden und es keine Angst haben wird, sich zu öffnen und auch mal vermeintlich Durcheinander und Widersprüchliches kundzutun. Ich weiß jetzt schon, dass Mutter und Teenagerin später davon profitieren werden und sie die Pubertät mit weniger gegenseitigen Verletzungen durchlaufen können.

Warum erwähne ich das? Weil dies ein weiteres Puzzleteil  für meine Überzeugung ist, dass die grundlegenden und wichtigen Dinge in den ersten drei Lebensjahren passieren und dass man in dieser Zeit gar nicht genug Zeit und Aufmerksamkeit in das kommunizierende Miteinander stecken kann. Da gibt es kein Zuviel von Irgendwas. Meine langjährige  Erfahrung in der Begleitung von Menschen vom Kleinkind bis zum jungen Erwachsenen bestätigt mir dies immer wieder aufs Neue. Ich erinnere mich, dass ich dies schon meinen ersten Eltern damals, als ich auch noch sehr jung und eigentlich recht unerfahren war, mit viel Enthusiasmus versucht habe zu vermitteln. Ich bin dankbar für den Vertrauensvorschuss, den mir manche von ihnen gaben. Heute kann ich viel besser argumentieren, weil ich tausendundeine erlebte Geschichten als Beispiele anbringen kann. Aus einer damaligen Hypothese ist mittlerweile eine durch Erfahrung untermauerte These geworden.

Das ungewollte Kind

Die beste Basis für jedes Menschenkind: In Liebe gewollt, empfangen, willkommen, angenommen und begleitet.

Wir alle tragen mehr oder weniger kleine Verletzungen, Demütigungen, und Erniedrigungen aus der Kindheit mit uns rum.
Das ist an sich nichts Tragisches. Es gehört zum Aufwachsen dazu und hat meistens seinen Grund in den unterschiedlichen Wahrnehmungsebenen von Kindern und Erwachsenen. In der Regel können wir die dazugehörigen Bilder und die daran gekoppelten Emotionen später auflösen und freundlich wohlwollend damit, mit uns und mit allen Beteiligten umgehen.

Es gibt jedoch ein Trauma, das so tief geht, dass es kaum bewusst ist, unser Denken und Handeln aber über Jahrzehnte bestimmt und die Flexibilität unserer Wahrnehmungsfilter blockiert.

Dieses Trauma nenne ich „Das Drama des ungewollten Kindes“.

Dieses Nichtgewollt- und NichterwünschtSein bestimmt sowohl das Verhalten der so fühlenden Erwachsenen gegenüber dem Kind, als auch dessen Wahrnehmung und Interpretationen von eben diesem Verhalten. Gleichzeitig verunsichert und verängstigt es das Kind zutiefst.

Es traut seinen eigenen Empfindungen nicht mehr. Sein Bauchgefühl wird, besonders dann, wenn seine Erwachsenen aus einem diffusen Schuldgefühl heraus die Fürsorge zum Teil ins Absurde steigern oder sich Fürsorge und Vernachlässigung undurchschaubar in einem Affentempo abwechseln, von ihm verleugnet. Es verliert den Zugang zu seiner Intuition und zu seiner ganz eigenen Gefühlswelt.

Die Auswirkungen sind umfassend und fatal. Schuldgefühle, niedriges Selbstvertrauen, Verlassens- und Versagungsängste, Bindungsstörungen, einbetonierte Glaubenssätze, unversöhnliche innere Richterinstanzen und die daraus sich ergebenden manifestierten Handlungsmuster (z.B. kontextunabhängig bemühtes Wohlverhalten, diffuse Traurigkeiten, Fluchtreflexe bei Nähe, u.v.m. ) bilden einen dichten Kokon, in dem Inneres Kind und späterer Erwachsener fast untrennbar miteinander verwoben sein werden.

Ich habe solche Kinder nun von klein auf aufwachsen gesehen und es macht mich tief traurig, wenn ich mich daran erinnere, dass alle Elterngespräche von damals nichts gebracht und viele meiner Befürchtungen sich bewahrheitet haben. Manchmal denke ich, es wäre für alle Beteiligten besser gewesen, man hätte sich sehr früh voneinander getrennt. Darf man das denken? Ja, darf man. 

Prävention

"Prävention ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die das Engagement der Menschen, die in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen tätig sind und Einfluss haben, verlangt."

Lohnt sich zu lesen. Immer mal wieder. Kurz, klar und knapp auf den Punkt gebracht. 
Sieben Präventionsthemen

1. Dein Körper gehört dir!
2. Vertraue deinem Gefühl! 
3. Unterscheide angenehme von unangenehmen Berührungen
4. Kinder haben das Recht Nein zu sagen
5. Unterscheide gute und schlechte Geheimnisse!
6. Kinder haben ein Recht auf Hilfe
7. Kinder haben niemals Schuld

*Anmerkung
Ja, ich finde 35 Seiten kurz und knapp

Vorbild

Anstatt deinem Kind ständig
beibringen zu wollen,
wer und was es sein
könnte, sollte, müsste,
zeig ihm lieber Tag für Tag,
wer du bist und wofür du stehst.

Kleine Kinder kommen mit dem tollsten Lernprogramm überhaupt auf die Welt: Sie ahmen nach. Sie eignen sich all ihre Fertigkeiten an, indem sie sie abgucken und abhören. Und dann wiederholen sie. Wieder und wieder, bis es sitzt. Begleitende Erwachsene verhalten sich besonders in den ersten Monaten quasi intuitiv perfekt entsprechend diesem Lernprogramm. Sie betonen Wörter, verlangsamen und übertreiben ihre Mimik, variieren Tonlagen, wiederholen, wiederholen, wiederholen gleiche Kommunikationsmuster, führen Rituale in den Tagesablauf ein. Sie schaffen dadurch ein Gerüst von überschaubaren Lerninhalten und, genauso wichtig, spinnen damit ein festes Netz von Sicherheiten und Zuverlässigkeiten.
Das funktioniert prima. Also, warum sollte man dann damit aufhören? Eben, gibt es keinen Grund dafür. Auch später lernen Kinder vor allem durch Vorbild. Sprache wird wichtiger, ja. Aber sie macht nur einen kleinen Teil aus. Unsere innere Haltung, unsere (auch körperlich) kommunizierten Gefühle, unser reales Tun bleiben das "Beeindruckende", quasi die Leuchttürme, nachdem das Kind sich immer wieder  ausrichtet.

Das ist wunderbar. Das ist eine verdammt mächtige Verantwortung. Wir sind aufgefordert uns ständig mit uns auseinanderzusetzen und innezuhalten und zu reflektieren, was haben wir da eben denn eigentlich wirklich wie kommuniziert. Anstrengend manchmal, aber auch ein Geschenk, dass die Kinder uns machen. Ganz bei sich zu sein, um ganz beim Kind zu sein. Schön, oder?

Hausaufgaben

Gedankensplitter zum Thema Hausaufgaben

„Erster Schultag in unserem Dorf und die Kleinen kommen nach Hause mit ihren ersten Hausaufgaben. Mir klappte die Kinnlade runter. Sind die deppert, die Lehrerinnen? Ja, sind sie.“

Ich erinnere mich nicht genau, wie viele Entschuldigungen ich meinen Kindern damals für nicht gemachte Hausaufgaben wohl geschrieben habe. Ich denke, man könnte Ordner damit füllen. Raus gehen, spielend die Welt entdecken, Abenteuer erleben, sich mit Freunden treffen, den Nachmittag verträumen, und vieles mehr, erschien mir immer wesentlicher für die Allgemeinbildung der Kleinen als dumpf backendes Wiederholen von Vorgekautem.

Interessante Erfahrung war jedoch, dass es Hausaufgaben gab, die die gerne machten. Zum Beispiel Geschichten schreiben, sich mit einem Thema (z.B. Mittelalter) näher zu beschäftigen.

Konsequenz war auf jeden Fall, dass ich sehr, sehr oft für Elterngespräche in die Schule musste.

Als sie älter waren hatten wir folgenden Deal: „Ausgehend von der Tatsache, dass ich Schule, so wie wir sie vorfinden für dämlich und ungeeignet halte und der weiteren Tatsache, dass ich mich aufgrund meiner Lebensumstände nicht imstande sehe, Schulverweigerung mit Selbstlernprogrammen durchzuziehen, bleibt uns nicht anderes übrig, als da durch zu gehen. Also werdet ihr euer Bestes geben in Bezug auf Klassenarbeiten und Noten. Ihr lernt den Scheiß, weil ihr es locker lernen könnt. Ich wiederrum schaffe euch genügend Luft zum Atmen und ziehe, wenn nötig in die Schule ein, damit ich nicht jeden Tag den weiten Weg zum Elterngespräch fahren muss. Ich halte euch den Rücken frei, wenn es um unsinnige Forderungen oder Grenzüberschreitungen (Hausaufgaben, freie Tage, anmaßendes Verhalten der Lehrkräfte euch gegenüber, etc.) geht. Das funktioniert aber nur, wenn die mir nicht jedes Mal mit dem Todschlagargument von Fünfern in der Leistungsbewertung kommen können.“

Das klappte prima. Man könnte es einen faulen Kompromiss und inkonsequent nennen. Ja, könnte man. Für uns war es ein guter Weg.


Folgende Gedanken zu Hausaufgaben von Tim Schlenzig finde ich gut. Der Tim ist ein kluger junger Mann, den ich sehr schätze.


Selbstwirksamkeit

Selbstwirksamkeit meint die innere Überzeugung, dass man fähig ist, etwas zu bewirken, eine Aufgabe lösen zu können, etwas in Gang zu setzen oder gar etwas (die Welt) verändern zu können. Studien zeigen immer wieder, dass Menschen, die an ihre eigene Kraft glauben, ausdauernder bei der Bewältigung von Aufgaben sind, und außerdem ein geringeres Risiko für Angststörungen entwickeln.

Ermutigung („Du kannst es bestimmt schaffen“), Modelllernen („Schau, wie ich das schaffe“) und vor allem eigene Erfahrungen („Ich schaffe das durch eigene Anstrengung“) haben den wichtigsten Einfluss auf die Ausbildung der Selbstwirksamkeit.

Kinder baden, wenn es ihnen ermöglicht wird, in dem Gefühl der Selbstwirksamkeit. Wow, ein Pippi Langstrumpfgefühl „Ich mach die Welt, wie sie mir gefällt!“ Das kann, für alle Beteiligten (ja, auch und gerade für das kleine Kind selbst), manchmal sehr anstrengend sein.

Ich bin jedoch der festen Überzeugung, dass dieses Gefühl der Selbstwirksamkeit erst einmal grundlegend gefestigt sein muss, damit danach die soziale Regulierung/Anpassung ohne Schaden erfolgen kann. Denn die erfahrene Selbstwirksamkeit stärkt das Selbstbewusstsein und den inneren Selbstwert und auf diesen beiden baut soziale Kompetenz erst auf. Dann werden nämlich aus dumpfem Gehorsam, der immer einen inneren Widerstand nährt (die Rechnung wird spätestens in der Pubertät präsentiert), ein wohlwollendes Akzeptieren und ein flexibel angemessenes Umsetzen von sozialen Regeln. Das Befolgen dieser Regeln erniedrigt dann den eigenen Selbstwert nicht mehr, sondern erhöht ihn eher.

Selbstwirksamkeit ist für kleine Kinder wie Magie. Wir sollten sie nur sanft und voller Zärtlichkeit entzaubern. Und ein nicht so kleiner Rest darf ruhig davon übrig bleiben.